"Besuch bei einer Verzückten Heiligen"
von Giorgio Manganelli (1921-1990)

 

Am Ende der Via XX Septembre in Rom, wo es zum Largo Santa Susanna geht, steht die Kirch Santa Maria della Vittoria. Im linken Querschiff der kleinen, langgestreckten Kirche wird ein Gemeinplatz, ein Meisterwerk und zugleich eines der "zweideutigen Objekte" der italienischen Kunst aufbewahrt: "Die Ekstase der heiligen Theresia" von Gian Lorenzo Bernini.

Und sie ist beleuchtet: freilich ein wenig weihnachtlich schummrig und sparsam, aber immerhin, man sieht sie. und das ist schon viel. Ich bin wiederholt in diese Kirche gegangen, um dieses wohlbekannte Bild zu betrachten, und ich habe versucht, einen Gebrauch davon zu machen. Wenn man jedoch dieses Objekt in Wirklichkeit mit dem bloßen Auge betrachtet, dann ist es auf einmal nicht mehr banal, noch wohlbekannt, sondern es wird ausweichend, beunruhigend, unbequem und elegant zugleich; es ist ganz nahe und nicht zu greifen; offensichtlich und dunkel; deutlich und geheim. Man sagt mir - und vermutlich stimmt es auch -, es handelt sich um eine Skulptur; aber dazu kann ich nur sagen, als Skulptur interessiert es mich nicht. Wenn ich hier die meisterliche Statue eines Marmorvirtuosen vor mir habe, kann ich mich ruhig den hochgeschätztem Gespenstern widmen, die in den finsteren Winkeln der Kapellen hocken; ich liebe das Dunkel und den Schatten, und wenn diese hell beleuchtete Statue nicht auch zuinnerst dunkel wäre, könnte sie mich nicht interessieren.

Ich versuche, sie anzuschauen, meinen Blick zu schärfen, denn ihm übertrage ich die Aufgabe, in diesem Weiß das Dunkel ausfindig zu machen. Und da verschwindet die Statue. Jetzt habe ich etwas vor mir, das ich eine "Figur" nennen möchte: Damit meine ich ein in den Raum gestelltes Zeichen, etwas, das Menschliches vortäuscht, aber zur Welt der unmenschlichen Bilder gehört, eine gleichgültige und notwendige Form, die von der Luft nichts weiß und ihrer nicht bedarf.

Die Entdeckung einer Figur, wo eigentlich eine Skulptur sein sollte, stört mich; ich weiß jetzt, daß ich einem Ding gegenüberstehe, das nichts ausdrückt, mich aber verhext und in etwas hineinzieht, ohne selbst hineingezogen zu werden. Ich versuche eine erste Beschreibung der Statue, die keine Statue mehr ist, und merke, daß sich an der Form schon eine erste Metamorphose vollzogen hat, und diese Verwandlung reißt mich mit. In der Anfangsphase, der "kunsthistorischen", war ich gewillt zu glauben, es handle sich um Marmor, der durch schier unglaubliches Geschick dei weiche, zerknitterte Zartheit eines füllig gebauschten, unordentlich prunkvollen Stoffes vortäuschte. Jetzt da ich eine Figur vor mir habe, bemerke ich, daß der Prozeß umgekehrt verlaufen ist: daß nämlich der Stoff, von sich aus zart und fleischlich, sich in Marmor verwandelt hat, gewachsen ist, bis er zu Stein wurde; der wandelbare, hinfällige Stoff ist in der endgültigen, harten Ruhe der Form festgehalten.

Genau besehen kann das zu Marmor gewordene Gewand nur ganz schwache Erinnerungen haben, denn auch der Körper ist zu Marmor geworden und hat bei seiner Verwandlung seine menschliche Scheingestalt geoffenbart, es ist ein Körper, dem es gelungen ist, ohne Geburt dazusein. Es könnte ein Gespenst sein, wäre er nicht eine Welt aus Erinnerungen, so ausgeblutet und glorreich gestorben, ohne je gelebt zu haben. Dieser Körper wird nun von einer Wolke gestützt, an der sich dieselbe Verwandlung vollzogen hat: ohne kompakt zu werden, fügt sich die Bewohnerin kristallener Himmel in die Sphäre von Gewand und Körper.

Ich betrachte den absolut anstrahlen Leib der heiligen Theresia; erblicke einen Fuß, der ins Bodenlose ragt. Er tritt auf nichts, die Anwesenheit des Fußes hat allein den Sinn, zu nicht nütze zu sein; an diesem geistigen Ort ist und war nie ein Boden. Der Raum unter diesem Fuß ist unendlich, aber wir können das nur schließen, denn er reicht nicht bis zu uns. Ich betrachte die Hand: sie kann nichts fassen, obschon sie eine menschliche Form hat; sie hat darauf verzichtet, etwas anzufassen, zu drücken, zu besitzen: der anmutige Tribut für ihre Verwandlung in Marmor liegt darin. Der Blick gleitet über diese schwerelosen, nur zum Schein körperlichen Formen und tastet sich durch das komplizierte Labyrinth des harten Marmors; kaum vermag er sich loszulösen von diesem Gewand: denn es ist Zeremonie, Flug, Undurchdringlichkeit, Licht, alles zugleich. Und schließlich entdecken die Augen das Antlitz und bemerken gleichzeitig, die hl. Theresia ist nicht allein.

Das Antlitz der heiligen Theresia wurde als das unauslöschliche Zeichen für die Zweideutigkeit der Skulptur angesehen; da ich aber glaube, es nicht mit einer Skulptur zu tun zu haben, dürfte mich das gar nicht interessieren; es ist aber schon soviel und auf so triviale Weise darüber gesprochen worden, daß ich doch noch ein paar Worte darüber sagen möchte. Es sei das Gesicht einer in Wollust und fleischlicher Hingabe versunkenen Frau, hörte man; diese Beschreibung akzeptiere ich Wort für Wort, muß aber hinzufügen, daß sie dem unantastbaren Antlitz nicht zum Spott gereicht, sondern nur dessen symbolischen Wert, die in der Wollust verborgenen "Figur" mißversteht, denn sie führt zum Verlust der Anwesenheit.

Die eben erwähnte Interpretation bringt eigentlich nur eine Verspottung des Orgasmus zum Vorschein, nichts weiter. In Wirklichkeit ist das Antlitz der heiligen Theresia der Gipfelpunkt der Abwesenheit; und deshalb nicht anders als die vollkommene, ewig nutzlose Hand und der Fuß, der nie einen Boden berührt hat.. Die Abwesenheit dieses Antlitzes, sein Nicht-Dasein eröffnet der Figur eine neue Geschichte; und ich werde mich darin versuchen, ihr nachzugehen, fast als ob ich einer getanzten, zeremoniellen, archaischen Erzählung beiwohnen würde.

Dieses problemlose Antlitz ist in Wirklichkeit erschütternd in seiner Problematik; in diesem Gesicht haust der Tod, aber er ist nicht tödlich, er hat nur die Aufgabe, das Antlitz zu "töten": das heißt, es weiterhin wie ein menschliches Antlitz aussehen zu lassen und trotzdem jegliche antropomorphe Eigenschaft aus ihm zu entfernen; denn dieses Antlitz hat die Abwesenheit eingefangen, wurde von ihr ergriffen, von etwas, das für uns nur als lichtes, blendendes Nichts denkbar ist, durchdrungen und verwandelt. Dieses Antlitz ist der Verlust des Ichs, des Namens und des Gesprächs; es wehrt sich nicht und ist uneinnehmbar; es leistet keinen Widerstand und seine Kraft ist nicht berechenbar; es steht fern und ist bedrängend nah; wie Wasser und Luft hat es keine Form und besetzt jeden Ort, alle Augen, die es anzusehen wagen; seine Ferne ist unauslotbar und dennoch wohnt sie quälend und zerstreut in unserem Innersten. Diese in unserem Innersten versunkene Abwesenheit legt uns nahe, der gesamten Geschichte nachzugehen und uns zu fragen, ob zu der Abwesenheit, die in dieser Figur eingeschlossen ist, nicht irgend ein Weg hinführt. Dem Bild des Angesichts gegenüber steht ein Engel; er betrachtet sein gegenüber und hält in der Hand einen Pfeil, der auf das Herz der heiligen Theresia zielt. Also schickt sich der Engel an, die Heilige damit zu treffen? Nein; kraft eines Paradoxes, das in der Welt der Figur ganz natürlich ist, hat der Engel die Heilige schon getroffen; genauer gesagt: die heilige Theresia hat Pfeil und Engel erschaffen, indem sie sich selbst in das Ziel des Pfeils verwandelt hat. Und nun sind wir bei der entscheidenden Stelle dieses faszinierenden Antlitzes angelangt: bei seiner untätigen Tätigkeit, seiner an ein Wunder grenzenden Fähigkeit, seine eigene Abwesenheit zu erzeugen. Engel und Frau gehören also der FRAU mit dem Antlitz, wie uns die Bilder eines unauslotbaren Traumes gehören, der uns selbst enthält. Durch die Erschaffung des Engels und des Pfeils in einer vergangenen Zeit, in der jedoch keine Zeitabschnitte zu unterscheiden sind, ist zu den vielen Geschichten, die man aufspüren kann eine neue hinzugekommen. Der Prozeß der Abwesenheit ist erst dann erkennbar, wenn er schon abgelaufen ist, und dann ist es zu spät, um ihn kennenzulernen; es ist ein gleichzeitig lichter und grausamer, eleganter und sadistischer Prozeß: Der Pfeil ist aus Gold, also eine Waffe aus Licht, und bringt unheilbare, lichte Wunden bei; der Engel zielt auf das Herz: es soll "durchbohrt" und "erleuchtet" werden, wie es geschehen kann, wenn ein nicht menschliches Bild sich unrettbar verliebt. Die Tötung des Herzens ist zugleich die unaufhaltsame Besetzung des Mittelpunktes, die Schöpfung an einem psychologischen und symbolischen Ort, an dem der irdische Gebrauch des Antlitzes, der Hand uns des Fußes abgeschafft wird. Aber all das ist, wie gesagt, nur möglich, weil die weibliche Figur, für die allmählich kein Name mehr taugt, sich selbst zur Zielscheibe gemacht hat.

Wenn aber der Engel dem Geist der heiligen Theresia entsprungen ist und somit zu dem Prozeß des Ichverlustes gehört, kann er uns Auskunft geben über das, was in jenem höchsten und unauslotbaren Moment geschehen ist; die "Frau" hat ein Bild der Liebe ausgestrahlt, hat ihren ganzen Willen zur Verwandlung zusammengenommen, um einen Ort der Lieb zu erschaffen, der als solcher imstande ist, sie als Zielscheibe zu erblicken und ins Herz zu treffen. Also "träumt" die Frau von dem Engel; da aber die Frau sich in einem Zustand der Abwesenheit und Enthaltung befindet, dürfen wir annehmen, daß sie vom Traum gefangen bleibt und in unendlicher Tiefe weiterträumt. Und wovon sollte sie träumen, wenn nicht von sich selbst? Somit ist diese Figur Bild eines Traumes, den niemand anders geträumt hat als die Figur selbst.

 

Goethe in Palermo über den Kunstsinn der Bewohner Palermos (Italienische Reisen dtv 2280: S. 235):

Dadurch wird freilich die Bewunderung der Menge erregt, deren ganze Kunstfreude darin besteht, daß sie das Nachgebildete mit dem Urbild vergleichbar findet.