Vatikanische Museen: Belvedere
 

Detlev Wannagat

 

Am 14. Januar des Jahres 1506 arbeitete Francesco de‘ Freddi in seinem Weinberg auf dem Esquilin in Rom, als plötzlich der Boden nachgab und ein unterirdisches Gewölbe zum Vorschein kam. In dem aufgedeckten Raum zeichnete sich der Umriß einer großformatigen Skulpturengruppe ab. Pflichtgemäß wurde der Fund umgehend Papst Julius II. gemeldet, auf dessen Veranlassung Giuliano da Sangallo und, so es denn nicht Legende ist, Michelangelo die Fundstelle aufsuchten. Es ist bezeichnend für die hervorragende Kenntnis der antiken Literatur in jener Zeit, daß die Statue unmittelbar als die Laokoongruppe identifiziert wurde, die der römische Universalgelehrte Plinius als einzigartiges Meisterwerk gepriesen hatte: ,,Opus omnibus et picturae et statuariae praeferendum" — ,,Ein Werk, das allen Werken der Malerei und Skulptur vorzuziehen ist".

Die Statuengruppe wurde im Gortile des Belvedere in einer eigens angelegten Nische aufgestellt, wo sie einen Ehrenplatz zwischen dem Apoll vom Belvedere und der Venus felix, einer heute kaum mehr beachteten Skulptur, erhielt. An dieser Stelle sah sie auch Wilhelm Heinse, als er in den Jahren von 1780 bis 1783 mit einer Intensität und einem eigenwilligen Zugriff wie kaum ein anderer die Kunst der Antike und der Renaissance in Italien studierte. Die literarische Frucht dieser Studien waren zahlreiche Briefe, ein umfangreiches Tagebuch und der im Jahr 1786 abgeschlossene Roman "Ardinghello". Der "Ardinghello" ist nicht nur ein Künstlerroman, sondern vor allem auch eine politische Utopie. Wenn man die Passage über den Laokoon liest, mag man sich eher an eine wissenschaftliche Abhandlung erinnert fühlen als an eines der meistgelesenen Werke des deutschen Sturm und Drang. Das zeitgenössische Publikum war jedoch gerade für diese Passagen empfänglich, war doch die Reiseliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer viel gelesenen Gattung geworden. Und das Gespräch über Kunst wurde unter allen Menschen von Stand und Bildung gleichermaßen gepflegt. Für die Künstler verband sich damit der Versuch einer Erneuerung des eigenen Schaffens, während es für viele andere lediglich ein beliebtes Gesellschaftsspiel war. Heinses Roman sprach durch die fundierte Kenntnis und oft provokant neue Sicht seiner Kunstbetrachtungen, seine radikal politische Utopie und die von äußerster Libertinage geprägten Liebesbeziehungen seiner Romanfiguren alle Leserschichten an. Es gab nur wenige Ästheten, die sich angesichts dieser Mischung angewidert abwandten. Unter ihnen Goethe, der sein erstes Leseerlebnis mit einem "Pfui!" zusammengefasst hatte und den die allgemeine Begeisterung für Heinses Roman äußerst bedenklich stimmte: ,,Das Rumoren aber, das im Vaterland dadurch erregt, der Beifall derjenen wunderlichen Ausgeburten allgemein, so von wilden Studenten als von der gebildeten Hofdame gezollt ward, der erschreckte mich."

Wie provokant Heinses Deutungen waren, zeigt sich auch an der zitierten Passage über den Laokoon. Es hatte sich durchgesetzt, die Statuengruppe vor dem Hintergrund der Erzählung im zweiten Gesang von Verglis "Aeneis" zu betrachten. Aufgrund einer bösen Vorahnung warnt Laokoon die Trojaner vor dem hölzernen Pferd, in dem die griechischen Krieger verborgen sind, und schleudert seinen Speer gegen das Weihgeschenk_an Athena. Die Göttin, stets auf Seiten der Griechen, sendet die Schlangen aus, die Laokoon und seine Söhne töten. Die Trojaner sehen hierin die gerechte Strafe für das frevelhafte Verhalten gegen die Göttin, ziehen zu deren Versöhnung das Pferd in die Stadt und besiegeln damit ihren eigenen Untergang. Einzig Aeneas entgeht mit seinem Vater Anchises und seinem Sohn Askanius dem Tod und gelangt nach langer Irrfahrt an die Küste Italiens, von wo aus die Gründung Roms ihren Ausgang nimmt.  Laokoon ist hier das Sinnbild des ungehörten Propheten, der zudem zwischen die Fronten der streitenden Götter geraten ist. Zugleich aber ist sein Tod gleichsam das Gründungsopfer für Rom, das neue Zentrum der Welt. Heinse kümmert sich wenig um diese Gelehrtenmeinung, legt den Vergil ohne Erwähnung beiseite und nimmt zwei andere antike Autoren als Gewährsmänner für seine Interpretation. Laokoon wird damit kurzerhand zum ,,herrlichen Verbrecher" erhoben, der sich dem zölibatären Willen der Götter widersetzt hatte - ein Sinnbild des Aufbegehrens gegen religiöse und gesellschaftliche Konventionen. Wenn man bedenkt, mit welcher Akribie und welchem Feinsinn sich Lessing in seiner weitreichenden Untersuchung "Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie" mit allen Problemen auseinandergesetzt hatte, ist die Provokation erst recht zu ermessen. Und wenn Heinse im Gesicht des Laokoon ,,den höchsten Ausdruck des Schmerzens" erkennt, so mag auch dahinter ein Hieb gegen Lessings Deutung verborgen sein. ,,Bei einem Affekt ist der Höhepunkt am unfruchtbarsten. Dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden", hatte Lessing in der Abhandlung von 1766 konstatiert und den Gesichtsausdruck des Laokoon als Seufzen interpretiert.

Heinses Deutung der Gruppe ist Teil einer lebhaft geführten Diskussion, in die er sich mit größter Sachkunde, vor allem aber provokanter Diktion einschaltet. Bemerkenswerterweise enthält Heinses Text nahezu alle wissenschaftlichen Informationen, die seiner Zeit zur Verfügung standen, und die letzten zweihundert Jahre haben kaum Neues erbracht. Immer noch wird gerätselt, ob die Gruppe eine Kopie oder ein Original sei und ob Vergils Schilderung früher oder später als die Gruppe entstanden ist. Diese Diskussion scheint heute aber mehr ein Streit unter Gelehrten zu sein, und kaum ein ,,wilder Student" oder eine ,,gebildete Hofdame" nehmen daran ähnlichen Anteil wie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.

Lit.: F.Haskell - N.Penny‘ Taste and theAntique (1981), 243ff; G. Daltrop, Die Laokoongruppe im Vatikan, Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen 5 (21986); 8. Andreae‘ Laokoon und die Gründung Roms (1988); N. Himmelmonn‘ Laokoon, in: Antike Kunst 34 (1991), 97ff; 8. Preiß, Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Laokoongruppe (1992).
 

Venus felix

... Julia Soemias eine Frau von etwa siebenundzwanzig Jahren, Mutter des regierenden Kaisers (Heliogabal, der selber knappe vierzehn war), im Bewusstsein der Untertanen dem Herrscher fast gleich an Majestät, tritt uns, fast lebensgroß, als Venus entgegen. Sie trägt nur "ein Gewand, das vorne geknotet ist", sonst nichts. Ihr Körper ist prachtvoll, der Busen klein und fest, die Hüften von jener weichen Rundung, deren sinnlicher Reiz auch auf den heutigen Beobachter noch ungehindert wirkt - wie sehr die knabenbezogenen Diktatoren moderner Weiblichkeit sich darüber auch entsetzen mögen. Die großen Augen , vom Marmor nur im Umriss gezeigt, hatten wahrscheinlich das verhaltene Feuer, das manche Frauen Syriens heute noch zwischen Lust und Würde zu entfachen wissen. Das Profil verrät in der Feinheit seiner Zeichnung die Sensibilität des hoch gezüchteten Geschöpfes, das spielerische Gefälle des einfach gekämmten Haares deutet auf die Kunst der Dame hin, Schlichtheit bewusst und erregend einzusetzen. Im ganzen eine wunderbare Frau  - und dabei keineswegs frei von weiblichen Schwächen: ihre Frisur ist - obwohl in Marmor gemeißelt - abnehmbar, damit sie der rasch wechselnden Mode entsprechend ausgetauscht werden konnte. Julia Soemias war eine berühmte Schönheit, die auch als Kaiserin nichts dabei fand, sich nackt porträtieren zu lassen, da ihrer Meinung nach der Anblick lohnend war und zugleich als Erklärung dafür dienen konnte, war die Zahl ihrer Liebhaber die Toleranzgrenze leicht überschritt. Im Jahre 222 nach Christus wurde sie, wenig älter als dreißig Jahre, zusammen mit ihrem Sohn Heliogabal ermodert. ...

aus Reinhard Raffalt: Große Kaiser Roms (piper: ISBN 3-492-20499-6)

 

 

bald mehr

 

bald mehr

 

bald mehr

   
zur Startseite www.pohlig.de  (C) MPohlig 2005

 

 



Zurück zur Startseite